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Titel
Jeanne d'Arc. Seherin, Kriegerin, Heilige. Eine Biographie


Autor(en)
Krumeich, Gerd
Erschienen
München 2021: C.H. Beck Verlag
Anzahl Seiten
399 S.
Preis
€ 28,00
von
Andreas Burri

Als junge Bauernfrau führte Jeanne d’Arc 1429 ein Armeekontingent des von Burgund und England bedrängten französischen Königreichs, regiert von Charles VII (1403–1461), zu entscheidenden militärischen Erfolgen wie die erfolgreiche Belagerung von Orléans, was die Befreiung Frankreichs und das Ende des 100-jährigen Krieges einleitete. Jeanne d’Arc berief sich dabei auf den Befehl Gottes, der ihr von inneren Stimmen mittgeteilt wurde. Nach einer Reihe von Kämpfen wurde sie 1430 weltlicherseits gefangengenommen, 1431 kirchlicherseits in Rouen als Ketzerin verurteilt und lebendig verbrannt. 1450–1456 erfolgte nach dem von Charles VII initiierten Rehabilitationsprozess die Aufhebung des Urteils.
Jeanne d’Arc ist also eine religiöse Gestalt, sie ist aber auch eine Gestalt der Nationalgeschichte Frankreichs und durch ihre Taten und Worte an sich eine herausragende, geheimnisvolle Persönlichkeit am Ende des Mittelalters und damit am Anfang der Neuzeit. In der historischen Betrachtung zu ihr treffen entsprechend verschiedene Erfahrungswelten unterschiedlicher Herkunft vor dem Hintergrund der bewegten europäischen Gesellschaft zwischen Neuzeit und Gegenwart aufeinander: religiöse Deutungen bis hin zu Hagiographie, nationale Heldengeschichte, kritische bis polemische Stimmen dagegen, Versuche nüchterner Betrachtung und diverse Mischungen aus alldem. Vorliegendes Buch ist einer einerseits bemüht, diese Erfahrungswelten in ihrer Begründung sowie ihrer Problematik vorzustellen und anderseits seine eigene Geschichte dieser geheimnisvollen historischen Person zu erzählen.
Zeitgenossen- wie Nachkommenschaft interessiert natürlich vorerst Jeanne d’Arc an sich, heißt: ihre Motivation. War z. B. ihre Sendung, die sie von sich kundgab, Demut oder Hochmut? Der Autor argumentiert, dass solch elementare Fragen im Rahmen der Kultur des 15. Jh. zu verstehen sind; die Quellen dürfen nicht leichtfertig aus der Erfahrungswelt der Moderne abgeurteilt werden. So war der Glaube, dass Gott aktiv mittels auserwählter Individuen in die Geschichte eingreift, allgemeines Kulturgut; doch dieser Anspruch Jeanne d’Arcs stieß bei einer bestimmten Zeitgenossenschaft eben auch auf Ablehnung (8f., 11f.).
Vor dem Hintergrund solcher Ambivalenz kommt der Autor zu einer interpretatorischen Haltung, die entsprechend auch selbst wieder als ambivalent betrachtet werden kann: «Aber anders als unsere Vorgänger vor hundert und zweihundert Jahren sind wir Historiker [...] nicht mehr gezwungen, Partei zu ergreifen, uns zu identifizieren, aus dem Fall der Pucelle einen Glaubenskrieg zu machen. Wir müssen nicht mehr diskutieren, ob sie denn nun wirklich Stimmen gehört oder sich diese nur eingebildet hat. Selbstverständlich werden solche Fragen auch heute noch gestellt, aber sie sollten Historiker und diejenigen Leser, die sich für wissenschaftliche Geschichte interessieren, überhaupt nicht mehr tangieren. Ob es Gott gibt oder wir ihn nur imaginieren, ist kein wissenschaftliches Problem. Es kommt darauf an, Jeanne d’Arc zu ‹entmythisieren›, sie so weit wie irgend möglich von den beliebigen Vermutungen und Hypothesen, die sie nach wie vor umgeben, zu befreien.» (11)
Wäre hier aber das Vorhaben des Autors nicht konsequenter durchgeführt, wenn er sich bei Fragen wie: «Sind die Stimmen echt gewesen? Was heißt ‹echt›? Gibt es Gott? Hat Gott mit Jeanne d’Arc gesprochen? Warum? Warum so und nicht anders?», tatsächlich selbst positioniert, um diese historische Erscheinung durch Anteilnahme erfassen zu können? Denn genau diese Fragen wurden von der Zeitgenossenschaft als wirkliche, an ihnen als Personen Wirkung tuende gestellt. Es versteht sich, dass der Autor als Wissenschaftler der Skepsis ihren gebührenden Platz auf Höhe der Meinung zugewiesen haben will; in Anbetracht der tendenziösen Historiographie zu Jeanne d’Arc von der Neuzeit zur Moderne, die der Autor intensiv erforscht hat und die lange Zeit sein primärer Zugang zu Jeanne d’Arc gewesen ist (12), durchaus zu Recht. Aber eine Meinung muss eben auch eine Meinung haben, und es fragt sich, ob man dem historischen Gegenstand gerecht wird, wenn man keine Meinung zu dem hat, was ihn bewegte. «Uns sollte genügen, dass Jeanne zweifellos Stimmen hörte, die sie aufforderten, Orleans zu befreien. Ob diese Stimmen wirklich oder eingebildet waren, entzieht sich für immer historischer Kritik und spielt auch für ihre Motivationskraft keine Rolle. Jeannes Stimmen trugen die gesamte Persönlichkeit und jede einzelne ihrer Handlungen.» (43)
Vollzieht der Autor hier aber nicht eine durch die Moderne bedingte Distanzierung, die er eigentlich an erster Stelle vermeiden wollte? Ist es nicht eine zu einfache Distanzierung, wenn die Frage nach der Existenz personaler Wahrheit und ihrer Wirkung in der Welt als wissenschaftlich belanglos abgetan wird? Denn für Jeanne d’Arc als Wissenschaftlerin scheint sie nicht belanglos gewesen zu sein; können wir diese Person genügend verstehen, wenn wir ihren Anspruch auf Wahrheit, auf Objektivität in diese Sinne nicht mit ihr diskutieren bzw. darauf eingehen? Wollen wir diese historische Person in ihrer Phänomenologie erkennen, müssen wir uns also nicht durchwegs selbst aufrichtig mit der Frage beschäftigen, was Gott warum möchte, und diese Frage auch in die Geschichte, die wir betrachten, hineintragen? Können wir eine Person verstehen, ohne selbst an ihren innersten Überzeugungen, die sie in Bewegung setzen, Anteil zu nehmen? Da eine solche – hier theologische – Auseinandersetzung nun den für den Autor zu Recht so wichtigen Zweifel ebenso wenig ausschließt wie auch nicht anzunehmen ist, dass er dem Menschen Jeanne d’Arc damals versagt blieb, könnte der Autor hier beruhigt mehr wagen, ohne seine kritischen Grundsätze aufgeben zu müssen.
Diese vielleicht letztlich belanglosen Einwände beiseitegelassen, rückt der Autor nun ins Zentrum, womit Jeanne d’Arc ihre klerikale Zeitgenossenschaft in Unbehagen versetzte: Hauptgrund für ihre Verurteilung sei ihre Ich-Religiosität, welche die damalige Kirche vor dem Hintergrund vermehrter Häresien stark beunruhigte; eine Ich-Religiosität die v. a. in Frankreich, das seit dem 14. Jh. zu einer kirchenpolitischen Eigenständigkeit (Gallikanismus) tendierte, zusätzliche Brisanz gewann. Der Autor spricht hier von «Protonationalismus» (24), wobei er diesen Begriff selbst in Anführungszeichen setzt. In diesem Rahmen war für das mittelalterliche Rittertum ungewohnt, wie Jeanne d’Arc die Soldaten auf einen nationalreligiösen Kampf vereidete, der dann damalige Kriegsbräuche ignorierte und teils zu besonderer Radikalität bzw. Brutalität führen konnte. Inwiefern war dies von Jeanne d’Arc verursacht? So spielte eine zentrale Rolle im Inquisitionsprozess die Frage, ob die Stimmen diese Grausamkeit befohlen hätten und insofern nicht göttlich sein können (12, 15f., 23f., 42–44, 61f., 82, 125–128).
Vor diesem Hintergrund ist in der Historiographie die Frage ins Zentrum gerückt, ob Jeanne d’Arcs Aufgabe mit der Befreiung Orléans und der anschließenden Krönung Charles VII. in Reims erledigt gewesen sei; ob sie also dann durch die Fortführung des Krieges zu weit ging und damit ihren Tod selbst auf sich brachte. Dies bejahten im bewegten 19. Jh., in welchem die Säkularisierung einen elementaren kulturhistorischen Prozess ausmacht, Royalisten und Ultraklerikale, während Republikaner Jeanne d’Arc als eine von Monarchie und Kirche verratene Nationalheldin des Laizismus verstanden. Der Autor erarbeitet aus den Quellen (z. B. aus Jeanne d’Arcs «Brief an die Engländer»), wie eine solche Polarisierung beiderseits auf Projektion beruhe. Jeanne d’Arc sei, da sie ihre Mission insofern verstand, England komplett aus Frankreich zu vertreiben, mit der Krönung in Reims natürlich nicht an ihrem Ziel gewesen. Der Konflikt zwischen ihr und der Krone sei vielmehr sukzessive daraus entstanden, dass sie einen tatkräftigen, nicht zögernden religiösen Nationalkrieg gegen England (und soweit es zu England hielt: gegen Burgund) führen wollte, während die Krone mehr auf Zeit und Diplomatie zu setzen gedachte. Nüchtern meint der Autor, die Frage beiseitezulassen, wer damals (strategisch) Recht hatte. Aus den Quellen jedenfalls lasse sich nicht schließen, ob sie vom König verraten wurde. Dass er weder militärisch noch diplomatisch etwas zu ihrer Befreiung unternahm, könnte auch daran liegen, dass er ihre Gefangennahme ebenso als göttliches Zeichen interpretierte, wie ihre Erfolge; oder schlicht und einfach, dass er als Mensch notorischer Opportunist war (156f., 167, 184f., 218–221).
Der Autor versucht in seiner Aufarbeitung des Inquisitionsprozesses möglichst alle Parteien zu verstehen: Bezeichnend für Jeannes Ich-Theologie sei ihre klar aus den Zeugnissen sprechende Charakterstärke, die sich u. a. in einer Mischung aus «Schalk und einfacher, überlegener Gläubigkeit» (62), charakterlicher Brillanz, persönlicher Authentizität und argumentativer Überlegenheit gegenüber ihren klerikalen Richtern ausdrückte; «eine helle und über die Jahrhunderte hinweg faszinierend frische und authentische junge Frau von unerschütterlichem individuellen Glauben, von großer gedanklicher und sprachlicher Kraft.» (250) Dieses sich direkt auf Gott berufende Gewissen sahen die Kleriker als Hauptgefahr. Vor dem Hintergrund dieses grundsätzlichen Konfliktes entwickelten sich für den Prozess entscheidende, für uns Gegenwärtige schwer verständliche Zuspitzungen wie, ob es Jeanne d’Arc als Frau erlaubt sei, Männerkleidung zu tragen; ob dies generell superbia oder im Krieg zulässig sei; ob ihr dies die Stimmen befohlen hätten (und sich damit als nicht-göttliche Stimmen entlarvten, insofern dies gegen die religiöse Sittlichkeit verstieß). Der Autor versucht, diese Fragen in ihrer Zeitgebundenheit zu verstehen, weist aber auch klar auf die intrigante Einflussnahme auf den Prozess seitens der politischen Parteien hin; der Prozess war sowohl religiös sowie politisch, verschärft durch die Kriegssituation, und man dürfe beide Aspekte nicht trennen (61f., 228–230, 233, 237, 246–250, 252–257, 262–264, 267, 277, 281).
Ebenso wie der Inquisitionsprozess ist der Rehabilitationsprozess kontrovers diskutiert. Skeptische Stimmen meinen, dieser sei genauso wie jener politisch motiviert; Charles VII wollte lediglich zeigen, dass er seine Herrschaft keiner Ketzerin verdanke. Ein Indiz hierfür sei, dass er zur Gefangennahme, Verurteilung und Hinrichtung Jeanne d’Arcs stumm blieb, seine Gefährtin nie gerechtfertigt, geschweige denn zu befreien versucht hatte und den Rehabilitationsprozess verdächtigerweise erst nach dem weitgehend endgültigen Sieg über England (Befreiung von Rouen) einleitete. Die Diskussionen gehen so weit, die Unterlagen dieses Prozesses historisch als ungültige Quelle zu betrachten, was insofern problematisch ist, weil ohne deren Zeugenaussagen wir bedeutend weniger Informationen zu Jeanne d’Arc hätten. Entsprechend der bereits skizzierten Spur glaubt der Autor «den Zeugen eher, wenn sie die Spontaneität, Ungebundenheit, Entschiedenheit der Jungfrau betonen, die ja im Verhör von 1431 auch ständig aufblitzen. Kein Vertrauen setzte ich in Bekundungen, die eine Art höfische Unterordnung Jeannes unter den König behaupten. Denn das stimmt so gar nicht mir ihrer notorischen Respektlosigkeit gegenüber allen Hohen Herren überein. Weiter bin ich bei aller Offenheit für Übernatürliches und rational nicht Erklärbares ausgesprochen misstrauisch gegenüber allen, die aus Jeanne eine Art Herz-Jesu-Gestalt oder sogar direkt eine Heilige machen.» (281)
Ein elementarer Grund, weshalb der Rehabilitationsprozess das Urteil des Inquisitionsprozesses aufheben konnte, war, dass in letzterem Jeanne d’Arc, wiewohl sie sich auf ihr individuelles Gewissen vor Gott berief, sich auch dem Papst unterordnete und dessen Urteil anrief, was der Prozessleiter Cauchon aber unterband. Im Rehabilitationsprozess wurde letztlich aber keine Jeanne d’Arc gezeichnet, die eine aufmüpfige Kriegsbegabte war, sondern ein einfaches, Kirche und König gehorsames Bauernmädchen. Tendenziöse Deutungen der Person Jeanne d’Arc, die im 19. Jh. vor dem Hintergrund der Säkularisierung ihre Hochkonjunktur erleben, haben also bereits im 15. Jh. angefangen (262–264, 280–283, 302–304, 307–311, 314–318).
Was ich zu Beginn methodisch kritisiert habe, bleibt wissenschaftstheoretische bzw. geschichtsphilosophische Spekulation und für den Abschluss hier irrelevant. Das Buch überzeugt durch seine Disziplin gegenüber den Quellen, von denen sich, ohne dass dabei der Lesefluss gestört wird, auf nahezu jeder Doppelseite ein Auszug findet, seine nüchterne Unvoreingenommenheit und letztlich seine sympathische Einfühlsamkeit: taktvoll beobachtet der Autor eine Persönlichkeit, die nicht nur die Historiographie intensiv bewegt hat, wobei er sich als Mensch um den konkreten Menschen bemüht, der damals kämpfte und litt; letztlich ist dies also nicht ein Buch über Jeanne d’Arc, sondern für Jeanne d’Arc.

Zitierweise:
Burri, Andreas: Rezension zu: Krumeich, Gerd: Jeanne d’Arc. Seherin – Kriegerin – Heilige. Eine Biographie, München 2021. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Religions- und Kulturgeschichte, Vol. 115, 2021, S. 432-436. Online: <https://doi.org/10.24894/2673-3641.00100>

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